Betonung

 

Beren beschafft einen Silmaril wieder - Eissmann

 

Wann immer eine Sprache mehrsilbige Wörter besitzt, werden manche Silben kraftvoller ausgesprochen als andere. Wir sagen dann, diese Silben sind betont. In manchen Sprachen wird keine Silbe mehr betont als die anderen. Zum Beispiel legen Japaner auf jede Silbe dasselbe Gewicht, was frustrierte Ausländer dann als "Maschinenpistolen-Aussprache" bezeichnen. In westlichen Sprachen ist jedoch eine Variation in der Betonung üblich: Manche Silben sind betont, andere nicht.

Die Regeln dafür, welche Silben betont werden, sind jedoch unterschiedlich genug. Manche Sprachen haben ein sehr einfaches System; im Französischen empfängt jedes Wort seine Betonung auf der letzten Silbe (wie z.B. in "Paris" = "paRIS"). Die Finnen besitzen ebenfalls ein sehr simples System und betonen alle Wörter auf der ersten Silbe: Während einige von uns denken, dass Helsinki am "natürlichsten" "HelSINki" betont wird, werden die Einwohner dieser Stadt auf "HELsinki" bestehen.

 Da Finnisch Tolkiens allererste Inspirationsquelle war, könnte man meinen, er habe das einfache Betonungssystem ins Quenya übernommen und alle Wörter auf der ersten Silbe akzentuiert. In der "internen" oder fiktiven Geschichte der Sprache sieht er tatsächlich eine frühe Periode vor, während der Quenya-Wörter auf diese Weise ausgesprochen wurden (die sogenannte retraction period, WJ:366). Diese wurde jedoch durch ein neues System ersetzt, noch bevor die Noldor ins Exil gingen. Quenya, als eine Sprache der Gelehrten in Mittelerde, besitzt mehrere Betonungsmuster, die im Anhang E des HdR sorgfältig beschrieben werden. Dieses System müssen auch wir benutzen. (Es scheint, dass Tolkien es tatsächlich vom Lateinischen übernommen hat!)

Wörter mit nur einer Silbe, wie nat "Ding", stellen naturgemäß kein Problem dar; die eine Silbe ist der einzige Kandidat für die Betonung.

Die einfachsten mehrsilbigen Wörter, bestehend aus zwei Silben, sind ebenfalls unproblematisch: Im HdR-Anhang E notierte Tolkien, dass "bei Wörtern mit zwei Silben [die Betonung] in praktisch allen Fällen auf die erste Silbe entfällt". Die Formulierung impliziert, dass es einige wenige Ausnahmen geben mag; die einzige bekannte scheint das Wort avá "(tu es) nicht!" zu sein, welches auf der letzten Silbe betont wird: "a". (Selbst dieses Wort existiert auch in der alternativen Version áva, nach der normalen Regel auf der ersten Silbe betont: "ÁVa".) Den Namen des Gesegneten Reichs, Aman, hört man manchmal auf der zweiten Silbe betont - die korrekte Betonung muss jedoch "AMan" lauten, wenn wir die von Tolkien aufgestellten Regeln beachten. ("AmAN" wäre Amman, die Hauptstadt von Jordanien!) anhören

Längere Wörter mit drei oder mehr Silben sind ein wenig komplexer, wenn es um die Betonung geht. Viele von ihnen werden auf der vorletzten Silbe betont. In manchen Fällen ist die vorletzte Silbe jedoch nicht "geeignet", die Betonung zu erhalten: Diese Silbe kann niemals betont werden, wenn sie kurz ist. Woran können wir nun eine kurze Silbe erkennen?

Wenn sie keinen langen Vokal (keinen Vokal mit einem Akzent wie z.B. á, é...) enthält, ist dies fraglos ein Hinweis; dann ist der Vokal selbst kurz. Wenn dieser kurze Vokal von nur einem einzigen Konsonanten gefolgt wird, oder gar von überhaupt keinem Konsonanten, hat diese Silbe wenig Chancen, die Betonung zu erhalten. Die einzige Gelegenheit, sich dennoch als lange Silbe zu entpuppen, ist die, statt eines einzigen kurzen Vokals einen der Quenya-Diphthongs zu enthalten: ai, au, eu, oi, ui oder iu. Zwei zu einem Diphthong verbundene Vokale zählen, als hätten sie dieselbe "Länge" wie ein regulärer langer Vokal (á, í...).

Gibt es jedoch keinen Diphthong, keinen langen Vokal oder selbst keinen kurzen Vokal gefolgt von mehr als einem Konsonanten, so ist die Silbe unwiderruflich kurz. Wenn sie die vorletzte Silbe in einem drei- oder mehrsilbigem Wort ist, hat sie alle Chancen auf eine Betonung verwirkt. In einem solchen Fall bewegt sich die Betonung einen Schritt nach hinten und entfällt auf die drittletzte Silbe (völlig gleichgültig, wie diese Silbe wiederum aussehen mag). Tolkien schrieb, dass Worte von solcher Gestalt "in den Sprachen der Eldar favorisiert werden, besonders im Quenya." Beispiele:

Ein Wort wie  vestalë "Hochzeit" wird "VESTalë" betont. Die vorletzte Silbe kann keine Betonung empfangen, da ihr Vokal (a) kurz ist und nur von einem einzigen Konsonanten (l) gefolgt wird; also rückt die Betonung eine Stufe weiter zurück, zur drittletzten Silbe. Manchmal höre ich, wie Leute die Pluralformen Teleri (die See-Elben) und Istari (die Zauberer) falsch betonen: "TeLERi", "IsTARi"; Tolkiens Regeln zufolge müssen wir annehmen, dass er stattdessen "TELeri", "ISTari" vorsieht. Die kurze, vorletzte Silbe in den beiden Wörtern kann nicht betont werden. anhören

Ein Wort wie Eressëa (der Name einer Insel nahe des Gesegneten Reiches) wird von manchen gern auf der vorletzten Silbe betont (in bester Tradition des Betonungsmusters wie in "Eritrea"!). Doch da in Er-ess-ë-a die vorletzte Silbe lediglich ein kurzes ë ohne eine anschließende Konsonantengruppe ist (tatsächlich sogar ohne einen einzigen Konsonanten überhaupt), kann sie nicht betont werden, und die Betonung wandert zur vorhergehenden Silbe: "ErESSëa". Andere Wörter nach demselben Muster (kurzer Vokal, gefolgt von keinem Konsonanten an vorletzter Position): Eldalië "die Völker der Elben" ("ElDAlië" – obwohl das Wort Elda "Elb" allein natürlich "ELda" betont wird), Tilion "Der Gehörnte", Name eines Maia ("TILion"), laurëa "golden" ("LAURëa"), Yavannië "September" ("YaVANNië"), Silmarillion "[Die Geschichte] von den Silmaril" ("SilmaRILLion"). anhören

Doch obwohl solche Wörter "favorisiert" werden, herrscht ganz gewiss kein Mangel an Beispielen, bei denen sich die vorletzte Silbe für die Betonung eignet:

Vardas Titel Elentári "Sternen-Königin" wird "ElenTÁRi" betont, da der Vokal á in der vorletzten Silbe lang ist. (Wäre das a kurz, so hätte es nicht betont werden können, da es nicht von mindestens zwei Konsonanten gefolgt wird. Stattdessen wäre die drittletzte Silbe betont: "ELENtari" - ein solches Wort existiert jedoch nicht.) Die Namen  Númenórë, Valinórë sind entsprechend auf dem langen ó auf der vorletzten Silbe betont (während bei den Kurzformen Númenor, Valinor die Betonung auf die drittletzte Silbe entfallen muss: NÚMenor, VALinor). anhören

Worte wie  hastaina "verdorben" oder Valarauco "Macht-Dämon" (Sindarin Balrog) werden "hasTAINa", "ValaRAUCo" betont - da die Diphthongs ai, au wie lange Vokale gewertet werden, sofern es die Betonung betrifft. anhören

Die Namen Elendil und Isildur werden "ElENDil" und "IsILDur" betont, da der Vokal der vorletzten Silbe zwar kurz ist, dafür jedoch von mehr als einem Konsonanten gefolgt wird (namentlich von den Gruppen nd, ld). Ein doppelter Konsonant hätte hier denselben Effekt wie ein Cluster unterschiedlicher Konsonanten; z.B. wird Elenna ("Sternwärts", ein Name Númenors) "ElENNa" betont. (Im Kontrast dazu das Adjektiv elena "stellar, von den Sternen": es muss "ELena" betont werden, da die vorletzte Silbe "en" kurz und damit ungeeignet ist, eine Betonung zu erhalten - im Gegensatz zur langen Silbe "enn" in Elenna.) anhören

Beachten Sie, dass der einzelne Buchstabe x die zwei Konsonanten ks repräsentiert. Daher wird ein Wort wie Helcaraxë (ein Ortsname) "HelcarAXë" ausgesprochen (nicht "HelCARaxë" als ob nur ein einziger Konsonant dem kurzen a der vorletzten Silbe folgte). Vgl. die alternative Schreibweise  Helkarakse in den Etymologies, Eintrag KARAK. anhören

Wie schon an anderer Stelle angesprochen, sollen manche Kombinationen offensichtlich als einzelne Konsonanten verstanden werden: qu (für cw/kw) repräsentiert das labialisierte k, nicht k + w. Ähnlich sind ny, ty, ly, ry palatalisierte n, t, l, r (das erste = das spanische ñ). Doch in der Wortmitte, bei Fragen der Betonung, scheint es, dass qu, ly, ny, ty etc. als Konsonantengruppen zählen (doppelte Konsonanten oder Cluster - wir können nicht sicher sein, welches Tolkien hier genau meinte). In WJ:407 zeigte Tolkien auf, dass das  zusammengesetzte Wort ciryaquen "Seemann" (aus cirya "Schiff" + -quen "Person") "cirYAquen" betont wird. Wenn qu (= cw/kw) hier als ein einziger Konsonant (das labialisierte k) gedacht wäre, so folgte dem kurzen a keine Konsonantengruppe, und eine Betonung auf dieser Silbe wäre unmöglich: das Wort hätte stattdessen "CIRyaquen" gelautet. Also steht qu an dieser Stelle für den Cluster k + w, oder es repräsentiert ein langes oder doppeltes, labialisiertes k (oder gar ein labialisiertes kw gefolgt von einem w). anhören

Die Quintessenz hiervon lautet: betone "cirYAquen" und sei versichert, dass der Rest lediglich akademische Haarspalterei ist. Ein paar weitere Wörter, die diese Konstellation aufweisen: Elenya (der erste Tag der sechstägigen Woche der Eldarin, betont "ElENya"), Calacirya oder Calacilya (ein Ort im Gesegneten Reich, betont "CalaCIrya", "CalaCIlya"). anhören

Ein paar warnende Worte zum Akzentzeichen: Beachten Sie, dass der Akzent, der über Vokalen erscheinen mag (á, é, í, ó, ú), lediglich anzeigt, dass der betreffende Vokal lang ist. Während dieser Akzent in einigen europäischen Sprachen eine betonte Silbe markiert, gilt dies nicht für die normale Rechtschreibung in Tolkiens Quenya. (Einigen mag aufgefallen sein, dass Pokémon ebenfalls nicht auf dem é betont wird.) Ein langer Vokal wird oft die Betonung erhalten, wie im Beispiel Elentári weiter oben, aber nicht zwingend: Wenn der lange Vokal nicht an vorletzter Stelle auftritt, ist seine Länge (und damit auch das Akzentzeichen) für die Betonung vollkommen unwichtig. In einem Wort wie Úlairi, dem Quenya-Namen für die Ringgeister oder Nazgûl, fällt die Betonung auf den Diphtong ai, nicht auf das ú. Die Schreibweise palantír hat viele fehlgeleitet und dazu gebracht, das Wort auf "tír" zu betonen. Hier ist etwas, das Ian McKellen, der Darsteller des Gandalf in Peter Jacksons HdR-Film schrieb, als der Film gedreht wurde:

…Ich muss eine neue Aussprache lernen. Die ganze Zeit lang haben wir "palanTÍR" gesagt statt der altenglischen Betonung auf der ersten Silbe. Gerade als das Wort auf den Soundtrack gebracht werden sollte, kam eine Korrektur von Andrew Jack, dem Dialect Coach; er brachte mir den Norfolk-Akzent für Restauration bei, und beim  HdR überwacht er Akzente, Sprachen und alles Vokale. Palantír, genaugenommen ein Wort elbischer Herkunft, solle Tolkiens Regel folgen, nach der die Silbe vor einem doppelten Konsonanten betont werde - "paLANTír", was ähnlich wie "lantern" [Anm.d.Übers.: englisch für "Laterne"] klingt...

Andrew Jack hatte recht. Palantír kann nicht auf der letzten Silbe betont werden; praktisch kein einziges mehrsilbiges Wort des Quenya würde auf diese Art ausgesprochen (wie ich oben sagte bildet avá "(tu es) nicht!" die einzige bekannte Ausnahme). Stattdessen erhält das a der vorletzten Silbe die Betonung, da es vom Konsonantencluster nt gefolgt wird (ich sollte dies nicht einen "doppelten Konsonanten" nennen, wie McKellen es tut, da ich mir diesen Begriff für die Gruppe von zwei identischen Konsonanten aufheben möchte: tt oder nn -  zu Betonungszwecken machen Doppelkonsonanten und Konsonantencluster jedoch keinen Unterschied). Es heißt tatsächlich "palANTír". (Aber bei der Pluralform palantíri, in der das lange í plötzlich in der vorletzten Silbe auftaucht, erhält es die Betonung: "palanTÍRi".) anhören

Im Fall von langen Wörtern, welche auf zwei kurze Silben enden, kann die letzte eine weichere sekundäre Betonung erhalten. Im Wort hísimë "Nebel" fällt die Hauptbetonung auf hís, jedoch ist die letzte Silbe - nicht völlig unbetont. Diese sekundäre Betonung ist wohlgemerkt viel weicher als die Hauptbetonung. (Nichtsdestotrotz schrieb Tolkien, dass zum Zweck der Poesie die sekundäre Betonung metrisch benutzt werden darf: RGEO:69.) anhören

Zum Schluss noch eine Anmerkung über einen recht unbekannten Sachverhalt: Wie schnell sollte man reden, wenn man Quenya spricht? Die wenigen Aufnahmen, in denen Tolkien Quenya spricht, sind in diesem Punkt nicht zuverlässig; er spricht unvermeidlich sehr vorsichtig und sorgfältig. Über Fëanors Mutter Míriel schreibt er jedoch, dass "sie schnell sprach und stolz auf ihre Fertigkeit darin war" (PM:33). Folglich ist schnelles Quenya gutes Quenya. Wenn Tolkien dazu noch notierte, dass "die Elben beachtlichen Gebrauch von ...begleitenden Gesten machten" (WJ:416), erkannt man seine große Liebe für das Italienische – siehe Letters:223.

...zum Seitenanfang
...zurück zur Übersicht Aussprache